Linden – eine wahnsinnige Geschichte – Teil 9: Völkerwanderung nach Linden

Schmelztiegel Limmerstraße

Schmelztiegel Limmerstraße

Wo Schornsteine rauchen und Maschinen rattern, brauchten Unternehmer Arbeitskräfte. Männer, Frauen,  Jugendliche und Kinder. Nach Qualifikation wurde wenig gefragt, nach Muskelkraft schon eher. Und so strömten die Landlosen nach Linden, aus dem Calenberger Land, aus dem Eichsfeld, aus Sachsen. Der Lindener Schmelztiegel brutzelte sie in großer Hitze und Eile zu einer neuen Gattung: dem Lindener Industriearbeiter.  Der schuf sich in Windeseile aus heimischen Ursprungsdialekten sogar seine eigene Umgangssprache: das Lindener Platt (im Unterschied zum bäuerlichen Calenberger Platt). In dieser Sprache fehlten einige später bedeutsame Begrifflichkeiten: Ausländer raus; Fremde sind doof; wir sind uns selbst genug; Lindener Leitkultur…
Linden hatte unten an seiner menschlichen Basis ein großes Herz und das fühlte: Fremd ist der Fremde nur in der Fremde. Der kapitalistische Überbau setzte andere Maßstäbe: 12-13 Stunden Arbeitstag, mäßiger Lohn, noch schlechtere Wohnverhältnisse. Manche bekamen bei dem knappen Angebot nicht einmal eine Schlafstelle in Linden, siedelten sich in umliegenden Dörfern oder hannoverschen Stadtteilen an. Ohne U-Bahn und Kilometerpauschale fürs Auto hieß das: um 4.30 Uhr zu Fuß losgehen, Sommer wie Winter, denn bei Egestorff begann die Schicht um 6 Uhr. Dann 12 Stunden Arbeit…

Wohnungen für Arbeiter wurden gebaut, ganze Straßenzüge entstanden. Doch ob alt oder neu, von Lebensqualität keine Spur. In einem Bericht an das Königlich-Hannoversche Ministerium des Innern erstatte eine Baukommission 1861 Bericht:
„Weberstrasse: Sehr feucht und kalt.
Behnsenstrasse: dumpfig, feucht.
Falkenstrasse: dumpfig, sehr feucht.
Charlottenstrasse: Mistlager unter den Fenstern. Abortgruben unter dem Hause. Feucht. 1859 hier Cholerakranke.“ Seit 1845 gab es eine erste Arbeiter-Verbindung, den Buchdrucker-Arbeiterverein (ab 1849 für alle Branchen ein Arbeiterverein Linden). Da politische Vereinigungen im Königreich  verboten waren, beschränkte er sich auf ein Bildungsangebot, das die Mängel des Volksschul-Unterrichts ausgleichen sollte. Das wurde von den Mächtigen in Wirtschaft und Politik durchaus gern gesehen und die Arbeitervereinler waren auch ansonsten hinreichend brav. So wurde 1865 ein Sängerfest veranstaltet, dessen Höhepunkte Ständchen für Chef Egestorff (der war Ehren-Mitglied) und König Georg V. waren. Seine Majestät sollen gerührt gewesen sein… Was sich ein Jahr später steigerte, als Georg nach verlorenem Krieg ins österreichische Exil abreisen musste. Das Königreich Hannover wurde zur preußischen Provinz.

Aus dem Buch „Linden – Eine wahnsinnige Geschichte“ des kürzlich verstorbenen Autors Hans-Jörg Hennecke

Das Buch, ein Klassiker, ist leider auch in der zweiten Auflage vergriffen.