Was bisher geschah: Linden war also gegründet. Bauern richteten sich am Fuße des Lindener Berges ein und ackerten. Kein Fernsehen, keine Videospiele. Das Leben nahm seinen langweiligen Lauf. Bis eines Sonntags der Pastor auf St. Martin zwei Neuigkeiten ankündigte.
„Zwei wichtige Neuigkeiten, welche wollt ihr zuerst hören?“
Natürlich entschied man sich für die Zweite, weil der Gottesmann bekanntermaßen viel Anlauf brauchte, um zum Wesentlichen zu kommen. Diesmal war alles anders.
„Also“, stieß der Gottesmann atemlos hervor, „wir sind mit unserem Latein am Ende.“
Das war im Jahre 1538 noch keine doppeldeutige Redensart, sondern ziemlich wörtlich gemeint. Die Bauern stutzten misstrauisch. Latein war immerhin das Herrschaftswissen, mit dem sich die gelehrten Herren vorm gemeinen Volk verschanzten. In lateinischer Sprache war die Bibel von Mönchen per Hand abgeschrieben, somit vervielfältigt und dennoch dem einfachen Gläubigen nur per Predigt des Pfarrers erschließbar. Kurz: Latein war für Menschen jener Tage die halbe Miete auf der Karriereleiter. Und das sollte am Ende sein? Nun kam es knüppeldick von der Kanzel:
„Unser Martin Luther hat dem Papst den Stinkefinger gezeigt und die ganze Heilige Schrift ins Deutsche übersetzt. Was sagt ihr nun?“
Erst mal sagte keiner was. Dann kam Geschrei auf, bis man nur noch den Lautesten verstehen konnte. Das war Ludwig Cordt, ein stämmiger Bauer, der ganz gut lesen und schreiben konnte, obwohl kein einziges Schuljahr für ihn verwendet worden war. Er hatte sich das ABC in einem Do-it-yourself-Kursus beigebracht.
Der Prediger – sein Name war Helmold Koken – war bemüht, sich erneutes Gehör zu verschaffen.
Die Bauern verstummten und spürten, dass Herrschaftswissen doch erhalten bleiben sollte. Sie ahnten nämlich nicht, was 1444 in Mainz passierte. Da hatte der ehrenwerte Johannes Gutenberg die Druckkunst mit beweglichen Lettern erfunden und seine Jünger druckten nun wie im Rausch eine Bibel nach der anderen. In deutscher Sprache – oder was man damals dafür hielt. Was das in einer Marktwirtschaft für Folgen hat, wissen wir heute genau. Aber die Folgen hatten Linden noch nicht erreicht, sodass Pfarrer Koken weitersprechen konnte.
Wobei er bei seinen News verschwieg, dass 1516 in deutschen Landen das Reinheitsgebot für Bier eingeführt wurde: Bier durfte seitdem keine Haltbarmacher, Abwaschwasser und süßen Früchte mehr enthalten, nur noch Wasser, Hopfen und Malz. Dieses Reinheitsgebot hatte auch Luther stark in seinem Kampf inspiriert, während in Linden noch überwiegend ungesunder Schnaps getrunken wurde.
„Die andere Neuigkeit: wir sind jetzt evangelisch, haben mit Rom und den Katholischen nichts mehr am Hut. Ablasszettel gibt es nicht mehr. Das Geld werft ihr jetzt direkt in den Klingelbeutel. Was dann aus euren Sünden wird, hat mir die Obrigkeit noch nicht genau mitgeteilt. Ich vermute, sie verschwinden im Schlund des Beutels. Ansonsten geht alles seinen bewährten Gang.“
Das stimmte nur zeitlich begrenzt, denn die Rache Roms erreichte schließlich auch die norddeutsche Tiefebene.
Tilly war nicht die Frau von nebenan
Nein, Tilly war vielmehr Graf und General bei den Kaiserlichen, die für den alten römischen Glauben fochten. Sagten sie jedenfalls. Ebenso überzeugend war der Gegenpart: Dänen, Schweden und deutsche Fürsten, die für Gott und Luthertum das Schwert erhoben. Doch irgendwie ging es wie immer in Kriegen um Macht und Reichtum.
Tilly erschien auf dem Lindener Berg um Hannover einzunehmen, doch da war schon der überlegene Gegner. Also hielt man sich an Linden schadlos. Linden wurde plattgemacht, sah dann ungefähr so aus, wie der Parkplatz beim real-Supermarkt am Sonntag. Nur noch einige rauchende Trümmer erinnerten an das vielversprechende Dorf.
Dem vorläufigen Ende folgte ein langsamer Neuanfang. Am schnellsten war die Obrigkeit (sie hatte auch die geringeren Verluste) in Gestalt des Herzogs Christian Ludwig, der schon drei Jahre vor Kriegsende (1645) am Küchengarten einen Küchengarten anlegen ließ: Gemüseanbau für das Schloss in Herrenhausen.
Dann trat der Graf von Platen-Hallermund auf den Plan. Der übernahm den Lindener Besitz derer von Alten.
Aus dem Buch „Linden – Eine wahnsinnige Geschichte“ des kürzlich verstorbenen Autors Hans-Jörg Hennecke
Das Buch, ein Klassiker, ist leider auch in der zweiten Auflage vergriffen.
(Die Bilder sind von einer Webseite der Velberstraße 11. Urheber unbekannt. Ich hoffe das geht in Ordnung das ich sie für diesen Zweck verwende.)